Habe am Wochenende gerade einen sehr guten (aber auch sehr langen) Artikel in der Berliner Zeitung gelesen.
Thema Fernsehen und Kinder.
Dieser Artikel hat mich darin bestärkt unsere Tochter so wenig wie moglich vor die Glotze zu setzen!
Hier der Link:
"klick"
Zitat aus der "Berliner Zeitung":
Datum:
27.08.2005
Ressort:
Magazin
Autor:
Manfred Spitzer
Seite:
M01,
Vorsicht Bildschirm!
Fernsehen vermüllt die Köpfe der Kinder. Es macht macht dumm und gewalttätig
Als vor etwa einem halben Jahrhundert das Fernsehen eingeführt wurde, waren die Menschen euphorisch: Endlich wären Theater und Konzerte nicht mehr der Oberschicht vorbehalten, käme Wissen und Bildung in alle Haushalte. Mittlerweile verbringen wir zehn Mal mehr Zeit vor dem Bildschirm als mit körperlicher Bewegung an der frischen Luft.
Zweijährige hocken täglich zwei Stunden vor dem Fernseher, um 22 Uhr sitzen in Deutschland noch 800 000 Kinder im Vorschulalter davor, um 23 Uhr sind es noch 200 000 und um Mitternacht immerhin noch 50 000. Jugendliche schauen 3,5 Stunden fern, Erwachsene ebenfalls, es sei denn, sie sind arbeitslos: dann sind es 5,5 Stunden täglich.
Menschen sind "Augentiere", das Sehen ist mit Abstand unser wichtigster Sinn. Was wir sehen, wird in zunehmendem Maße durch das Fernsehen bestimmt. Es liefert die Bilder. Und dies hat Konsequenzen. Seit den 60er Jahren beschäftigt sich die Wissenschaft damit, zunächst zögerlich und eher am Rande, mittlerweile jedoch mit großen Studien und sehr klaren Ergebnissen: Das Fernsehen hat ungünstige Auswirkungen auf die schulischen Leistungen und auf die Bereitschaft zur Gewalt.
EINE NEUSEELÄNDISCHE STUDIE, die die Auswirkungen des Fernsehkonsums im Kindes- und Jugendalter auf das Bildungsniveau des Erwachsenen erforschte, kam zu dem Ergebnis:
Je mehr zwischen dem fünften und fünfzehnten Lebensjahr ferngesehen wird, desto schlechter ist mit 26 Jahren das erreichte Bildungsniveau.
Am deutlichsten beeinflusst das Fernsehen die berufliche Qualifikation der Kinder mit mittlerem Intelligenzniveau. Mit anderen Worten: Der gering Begabte hat eher keinen Abschluss, und der Hochbegabte landet an der Universität; mit oder ohne viel Fernsehen. Was aber in der Mitte geschieht, hängt sehr wesentlich davon ab, wie viel ferngesehen wird, und das betrifft den größten Teil der Kinder und Jugendlichen.
Aus einer repräsentativen US-amerikanischen Erhebung erfahren wir folgendes: Im Alter von sechs Jahren zeigen Kinder, die zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr viel fernsehen (mehr als drei Stunden täglich) eine deutliche Beeinträchtigung ihrer kognitiven Fähigkeiten (Konzentration, Lesefähigkeit, Sprachverständnis, mathematische Fähigkeiten) gegenüber Wenigsehern (weniger als drei Stunden täglich). Dieser Effekt war bei Kindern, die bereits vor dem dritten Lebensjahr viel fernsehen, noch einmal besonders ausgeprägt.
Eine dritte Studie untersuchte an Schülern von dritten Klassen in Kalifornien den Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein eines Fernsehers im Kinderzimmer und den schulischen Leistungen in Mathematik, im Lesen, im Sprach- und im Kunstunterricht. In allen drei Bereichen schnitten die Kinder ohne eigenen Fernseher deutlich besser ab als diejenigen, die über einen verfügen.
Betrachtet man die Ergebnisse der drei Studien zusammen, ergibt sich ein sehr klares Bild: Fernsehkonsum hat ungünstige Auswirkungen auf die schulischen Leistungen. Der Effekt betrifft alle Fächer, ist nicht mit anderen Faktoren zu erklären und wirkt sich langfristig auf den erreichten Ausbildungsgrad aus. Besonders beunruhigend ist die langfristige Wirkung des Fernsehkonsums in sehr jungen Jahren.
Warum aber sollte dies der Fall sein? Unsere geistigen Fähigkeiten werden vom Gehirn hervorgebracht, das auf bestimmte Weise funktioniert und sich auf bestimmte Weise entwickelt. Mit jeder Erfahrung, jedem Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsakt gehen flüchtige, wenige Millisekunden dauernde Aktivierungsmuster im Gehirn einher. Deren Verarbeitung verändert langfristig das Gehirn, man sprich von Neuroplastizität. Im Gehirn prägt sich besonders gut ein, was über mehrere Sinne hinein gelangt. Wird etwas gesehen und zugleich gehört, bemerken wir es schneller und reagieren darauf rascher und genauer.
Auch lernen wir dasjenige besser, was über mehrere Sinne in uns gelangt, denn es bleibt eher im Gedächtnis hängen, weil mehr und tiefere Spuren angelegt werden. Es wundert daher auch nicht, dass bei vielen Tieren und beim Menschen die soziale Kommunikation nicht nur über das Hören läuft, sondern auch über das Sehen, Berühren und sogar den Geruchssinn. Je mehr Erfahrungen ein kleines Kind macht, desto mehr und desto deutlichere Spuren bilden sich in dessen Gehirn. Diese Spuren sind es, die uns langfristig zum dem Individuum machen, das wir sind, mit unserer Sprache, unseren Gewohnheiten, Fähigkeiten, Vorlieben, Einstellungen und Kenntnissen: Wenn die Sonne scheint, wird es warm; Honig ist süß, und Vogelkirschen sind giftig; wenn zwei Gegenstände zusammenstoßen, macht das Krach und so weiter. All dies muss ein junges Menschenkind lernen, und dies tut es durch Auseinandersetzung mit der Welt. Im Gehirn bleiben Spuren dieser Auseinandersetzungen, die jedes Kleinkind nicht nur passiv erlebt, sondern aktiv sucht.
Die entstehenden Spuren sind um so klarer, je besser die Welt wahrgenommen wird. Genau hier ist das Fernsehen allein schon deswegen, weil Bild und Ton räumlich und meist auch zeitlich nicht ganz genau zusammenpassen, äußerst ungünstig für die kindliche Entwicklung - ganz unabhängig vom Programm: Im Fernsehen kommt der Klang aus dem Lautsprecher und das Bild von der Mattscheibe. Hinzu kommt, dass das Bild nur zweidimensional ist, dass die Dinge weder schmecken noch riechen und auch nicht angefasst werden können. Die Welt des Fernsehens ist also arm - verglichen mit der wirklichen Welt.
Erwachsenen Menschen macht dies nichts aus, es fällt nicht einmal auf, denn wir ergänzen automatisch, was fehlt. Bei einem kleinen Kind ist das anders. Es muss noch lernen, dass genau dort, wo sich etwas bewegt, es auch rasselt. Wie aber soll es dies vom Fernseher lernen? Von dem kommt lediglich eine "Bildsoße" und eine "Klangsoße", zusammenhanglos und erst dann verständlich, wenn man sich die Welt mit all ihren unterschiedlichen Gegenständen schon erschlossen hat. Zum kindlichen Erschließen der Welt taugt der Fernseher also nicht.
Wenn ich mich auf etwas konzentriere, dann benutze ich gespeicherte, bereits in mir befindliche Spuren, um meine Wahrnehmungswelt aktiv zu gestalten. Ich baue mir sozusagen eine Brille und betrachte ganz bewusst die Welt durch diese Brille. Ich höre beispielsweise auf einer Party jemandem in der linken hinteren Ecke ganz aufmerksam zu und blende alle anderen Stimmen aus. Oder ich konzentriere mich gerade auf das Formulieren dieses Satzes und merke gar nicht, wie jemand zur Türe hereinkommt.
Man sieht dies bei kleinen Kindern ganz deutlich. Ein Baby lebt im Jetzt, ist leicht abzulenken und hat nach der Ablenkung vergessen, was es noch einen Moment zuvor völlig faszinierte. Kleine Kinder verhalten sich noch ähnlich, und erst mit zunehmendem Alter entsteht die Fähigkeit, Handlungen zielgerichtet auszuführen, sich nicht ablenken zu lassen und längerfristige Pläne zu verfolgen. Diese Fähigkeit entwickelt sich mit der Heranreifung des Gehirns, insbesondere des Frontalhirns, das auch Stirnhirn genannt wird, weil es hinter der Stirn liegt.
Je besser das Frontalhirn entwickelt ist, desto eher kann man die dort angelegten Spuren zur Steuerung von Verhalten nutzen. Langfristige Pläne und Ziele, Bewertungen und Werte haben wir dort gespeichert. Auf all diese angelegten Spuren muss insbesondere derjenige zurückgreifen, der Probleme damit hat, seine Aufmerksamkeit auf etwas zu richten. Solche Probleme haben im Kern genetische Ursachen, werden jedoch durch das Fernsehen verstärkt.
Amerikanische Wissenschaftler publizierten im Jahr 2004 eine Studie, aus der ein Zusammenhang zwischen Fernsehen und gestörter Aufmerksamkeit klar hervorgeht. Zehn Prozent der untersuchten Kinder insgesamt litten unter Aufmerksamkeitsstörungen. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung war:
Je mehr Zeit Kinder zwischen zwei und vier Jahren vor dem Fernseher verbringen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in der Grundschule an einer gestörten Aufmerksamkeit leiden.
Halten wir fest: Bildschirme liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann daher annehmen, dass ein substanzieller Konsum von Bildschirmmedien eine geringere, beziehungsweise unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht.
Damit ist das Fernsehen bei den ganz Kleinen aus ganz grundsätzlichen Überlegungen heraus schädlich. Dass dies nicht graue Theorie darstellt, zeigt der empirisch nachgewiesene Zusammenhang von Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksamkeitsstörung im Schulalter. Wer weniger klare Strukturen in sich aufbauen konnte und zusätzlich an mangelnder Konzentrationsfähigkeit leidet, dem geht es im Hinblick auf seine Aufmerksamkeit in der Schule etwa so wie demjenigen, der mit dem rechten Bein hinkt und sich das linke Bein bricht: Mit dem Laufen steht es nun so richtig schlecht.
Unser Gehirn ist für das Lesen nicht gemacht. Wenn wir es dennoch zum Lesen verwenden, dann ist das etwa so, als würden wir mit dem Traktor ein Formel-1-Rennen fahren. Es geht, aber eben nicht so gut. Weil dies so ist, haben viele Kinder Schwierigkeiten mit dem Lesen. Das Fernsehen macht diese Situation nicht besser, sondern verschlimmert sie. Dies ist nachgewiesen: Wer viel fernsieht, liest nicht gut, liest nicht viel und sieht wiederum mehr fern.
In einer deutschen Studie teilte man Kinder im Kindergartenalter in Wenigseher (15 bis 20 Minuten täglich), Normalseher (etwa eine Stunde) und Vielseher (mehr als zwei Stunden) ein. Dann wurde die Leseleistung der Kinder im ersten und dritten Schuljahr gemessen. Die Vielseher hatten im Verlauf der zweiten und dritten Klasse nicht die gleiche Leistungszunahme wie die Kinder, die insgesamt weniger fernsahen. Es liegt also tatsächlich am Fernsehen im Kindergartenalter, dass das Lesen in der Schule nicht so gut funktioniert.
Im Klartext heißt dies: Fernsehen hat ungünstige Auswirkungen auf das Erlernen des Lesens. Dieser Effekt ist abhängig von der Dosis und zeigt sich nicht erst bei drei oder vier Stunden, sondern bereits bei zwei Stunden Fernsehen täglich mit klarer Deutlichkeit. Es ist also nicht egal, ob man im Kindergarten- oder Grundschulalter 15 oder 120 Minuten täglich fernsieht.
EIN DURCHSCHNITTSSCHÜLER in den USA hat nach Abschluss der Highschool (das heißt nach zwölf Schuljahren) etwa 13 000 Stunden in der Schule verbracht - und 25 000 Stunden vor dem Fernsehapparat. Er hat 32 000 Morde und 40 000 versuchte Morde gesehen sowie 200 000 Gewalttaten. Der Täter kommt in 73 Prozent der Fälle ungestraft davon, in mehr als der Hälfte (58 Prozent) der Fälle tut die Gewalt nicht weh, und in nur vier Prozent aller Gewaltakte werden gewaltlose Alternativen der Problemlösung aufgezeigt. Wenn nun Kindergehirne die Regeln aus ihren Erfahrungen, also aus den gesehenen Gewaltszenen, extrahieren, dann kann sich in ihrem Gehirn nur das Folgende in Form tiefer Trampelpfade breit gemacht haben: Gewalt gibt es sehr häufig in der Welt, sie löst Probleme und hierzu gibt es keine Alternative, Gewalt tut nicht weh, und der Gewalttäter kommt ungeschoren davon.
Nicht erst seit den Ereignissen von Erfurt im April 2002 ist den Menschen bewusst, dass die Gewaltbereitschaft unter den Jugendlichen zunimmt. Bereits die in den USA während der Jahre davor aufgetretenen spektakulären Ausbrüche von Gewalt in Schulen machten deutlich, dass Gewalt im Leben der Schüler eine zunehmende Rolle spielt. Bei einer im Jahr 1993 in den USA durchgeführten Umfrage sagten 35 Prozent aller amerikanischen Schüler im 12. Schuljahr, sie würden nicht alt, denn sie glaubten, vorher erschossen zu werden.
Zu den Auswirkungen von im Fernsehen gezeigter Gewalt auf reale Gewalt gibt es sehr viele sehr deutliche Studien. Sie zeigen, dass der Effekt zum Ersten dosisabhängig ist (je mehr ferngesehen wird, desto größer die Gewaltbereitschaft), zum Zweiten sich auch bei den Mädchen zeigt, zum Dritten nicht nur kleine Kinder betrifft, sondern auch Jugendliche und Erwachsene, und zum Vierten auch Menschen, die nicht zu Gewaltbereitschaft neigen. Die möglichen Wirkungsmechanismen reichen von emotionaler Abstumpfung über Bahnungseffekte für Gewaltbereitschaft bis hin zum Lernen am Modell, wofür es jeweils experimentelle Untersuchungen gibt.
Wie bei einem Arzneistoff muss man auch beim Fernsehen die kurzfristigen von den langfristigen Auswirkungen unterscheiden. Wie ist es mit den kurzfristigen Auswirkungen von Gewalt im Fernsehen bestellt? In einem typischen Experiment werden Kinder nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe sieht dann einen gewaltfreien Film, die andere einen Gewaltfilm. Dann spielten die Kinder Hockey, und es wird von Beobachtern, die nicht wissen, welchen Film ein Kind gesehen hat, festgestellt, wer wen wie oft während des Spiels tätlich angreift. In einem Fall waren es beispielsweise Sieben- bis Neunjährige, die ihre Kameraden während des Spiels schlugen, mit dem Ellenbogen rammten, zu Boden warfen, an den Haaren zogen oder anderweitig gewalttätig malträtierten. Die Studie zeigte, wie viele andere, einen klaren Effekt: Diejenigen, die zuvor den Gewaltfilm gesehen hatten, verhielten sich beim Hockey danach gewalttätiger als diejenigen, die zuvor einen gewaltfreien Film gesehen hatten.
Wissenschaftlern aus Kanada verdanken wir mittelfristige Daten. Sie spürten eine kleine Stadt - nennen wir sie Notel (für "no television") - auf, in der es bis ins Jahr 1973 auf Grund der geografischen Lage in einem Tal kein Fernsehen gab. Die Stadt war bis auf das fehlende Fernsehen in jeder Hinsicht normal, was bedeutsam ist im Hinblick auf die Allgemeinheit der Ergebnisse. Auch auf manchen abgelegenen Inseln gab es damals noch kein Fernsehen, aber die Lebensverhältnisse waren an diesen Orten vom Normalen sehr verschieden. Nicht so in dieser Stadt: Es gab Straßen, Busverbindungen, Schulen und sonst alles, was zum normalen Leben gehört; nur eben kein Fernsehen. Dies sollte sich innerhalb weniger Monate durch die Aufstellung eines neuen Senders ändern. Noch bevor dies geschah, begann die Untersuchung.
Man wählte zwei weitere Gemeinden als Kontrollgruppen aus. In einer gab es bereits seit sieben Jahren Fernsehen, jedoch nur einen Kanal (nennen wir sie daher Unitel), in der anderen (Multitel) gab es bereits seit 15 Jahren Kabelfernsehen mit vielen Kanälen. An zwei Zeitpunkten im Abstand von zwei Jahren wurde in diesen drei Gemeinden das Verhalten von Kindern sowohl durch Beobachtung in natürlichen Spielsituationen als auch durch Befragen der Lehrer und der Kinder und Jugendlichen verglichen. Es zeigte sich, dass innerhalb des Zeitraums von zwei Jahren in der Gemeinde mit eingeführtem Fernsehen das Aggressionsniveau zunahm: Die verbale Aggressivität verdoppelte sich, und die körperliche Aggressivität war nahezu verdreifacht - ein hochsignifikantes Ergebnis. Dies betraf sowohl Jungen als auch Mädchen in allen untersuchten Altersklassen. Man fand weiterhin einen Zusammenhang zwischen der Zeit, die die Kinder und Jugendlichen vor dem Fernseher zubrachten, und der Gewaltbereitschaft. Im Gegensatz dazu war das Gewaltniveau in den beiden Kontrollgemeinden gleich geblieben.
Auch zu ganz langfristigen Auswirkungen von Gewalt im Fernsehen liegen Untersuchungen vor. In einer Langzeitstudie wurden 875 achtjährige Jungen über einen Zeitraum von insgesamt 22 Jahren untersucht. Diejenigen, die bei der ersten Untersuchung im achten Lebensjahr überdurchschnittlich viele Gewaltszenen im Fernsehen sahen, wurden mit größerer Wahrscheinlichkeit von ihren Lehrern als gemein und aggressiv eingeschätzt. Die gleichen Jungen waren im Alter von 19 Jahren mit größerer Wahrscheinlichkeit mit dem Gesetz in Konflikt geraten und im Alter von 30 Jahren mit größerer Wahrscheinlichkeit wegen Gewaltkriminalität verurteilt oder gewalttätig gegenüber Ehefrauen und Kindern.
Bei jedem Medikament kann man Studien, die untersuchen, ob es wirkt, unterscheiden von Studien zur Frage, wie es wirkt. Nicht anders ist es bei den Untersuchungen zu den Effekten von Gewalt im Fernsehen.
Durch Laborstudien konnten als Wirkungsmechanismen der Gewalt im Fernsehen die Vorgänge des Modelllernens und der Desensibilisierung klar identifiziert werden. Das Modelllernen hatten wir schon kennen gelernt: Kinder sehen Gewalt im Fernsehen und machen es (beim anschließenden Hockey) nach. Oder man zeigt Kindern im Kindergarten Filme von anderen Kindern, die entweder gewalttätig oder nicht gewalttätig miteinander umgingen. Danach gibt man den Kindern Gelegenheit, miteinander und mit Spielzeugen zu spielen. Es zeigt sich: Wer Gewalt sieht, wird selbst gewalttätig; gesehene Gewalt wird imitiert, was sich sowohl beim Umgang mit Spielzeug als auch im Spiel der Kinder miteinander sowie in deren Umgang mit Erwachsenen zeigte.
Die Desensibilisierung ist aus Tierversuchen gut bekannt: Wenn ein Organismus einem bestimmten Reiz dauernd ausgesetzt ist, nimmt die Reaktion auf diesen Reiz immer mehr ab. Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben entsprechend, dass derjenige, der immer wieder Gewaltfilme anschaut, weniger stark auf einzelne Gewaltszenen in einzelnen Filmen reagiert. Das dauernde Anschauen von Gewalt im Fernsehen führt dazu, dass gewalttätige Verhaltensweisen dem Betrachter zunehmend normaler vorkommen. Nicht nur das Erleben und die körperlichen Reaktionen, sondern vor allem auch das Verhalten der Personen ändert sich entsprechend. Kurz: Das Betrachten von Gewalt führt zur Abstumpfung und zu gleichgültigerem Verhalten gegenüber Gewalt.
WAS KANN MAN TUN? Aus meiner Sicht gibt es kein Patentrezept, sondern viele Einzelmaßnahmen, die der Einzelne und die Gemeinschaft treffen können.
Wer kleine Kinder hat, der sorge dafür, dass sie nicht vor dem Fernseher sitzen. Ab dem Schulalter schadet vielleicht eine halbe Stunde nicht, obwohl es kaum wissenschaftliche Daten hierzu gibt. Mehr als eine Stunde Fernsehen pro Tag dürfte immer eher ungünstige Effekte haben.
Im Hinblick auf das Programm ist zu überdenken, ob der Trend zum kommerziellen Fernsehen nicht ein großer Fehler war. Es lebt davon, nicht Programme an Zuschauer, sondern Zuschauer an Werbeagenturen zu verkaufen, weswegen es auf Einschaltquoten angewiesen ist. Diese treibt man mit Sex and Crime am ehesten und vor allem am billigsten in die Höhe.
Die indirekten Kosten einer vermehrten Gewaltbereitschaft der Menschen tragen wir alle. Dieser Sachverhalt ist logisch äquivalent zur Umweltverschmutzung, denn der dreckigste Produzent produziert am billigsten, was jedoch letztlich alle mit einer verschmutzten Umwelt bezahlen. Die vermüllten Landschaften in den Köpfen der Jugendlichen sind also ähnlich zu behandeln wie der qualmende Schornstein, auch wenn sie sich dem Politiker und dem Wähler nicht so ostentativ darstellen: Man sollte über Steuern auf die Produktion gewalthaltiger Programme nachdenken, wie man vor Jahren über die Ökosteuer nachgedacht hat (das Prinzip ist das gleiche: Man internalisiert negative Externalitäten, wie die Ökonomen sagen).
Höhere Gebühren für die öffentlich-rechtlichen Programmanbieter gehen in die gleiche Richtung, sollten aber mit der Forderung verknüpft werden, das Programm auch wirklich zu verbessern und nicht etwa den kommerziellen Sendern anzunähern, wie dies in den letzten Jahren geschehen ist.
Eines dürfen wir nicht tun: Nichts. Das Körpergewicht der Menschen bestimmt deren Gesundheit in 20 Jahren, der Bildungsgrad einer Gesellschaft ist unmittelbar mit deren wirtschaftlichem Erfolg in 20 Jahren verbunden, und der Konsum an virtueller Gewalt macht mit einer Verzögerung von 15 bis 20 Jahren reale Gewalt. Wenn wir jetzt nichts tun, werden wir die negativen Auswirkungen erleben. Wenn wir noch leben.
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer ist Inhaber des Lehrstuhls für Psychiatrie an der Universität Ulm und Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zu den Ergebnissen der Hirnforschung, so "Geist im Netz", "Musik im Kopf", "Selbstbestimmen". Das jüngste, "Vorsicht Bildschirm. Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft", erschien im Ernst Klett Verlag 2005.
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Foto: "Zweijährige hocken täglich zwei Stunden vor dem Fernseher, um 22 Uhr sitzen in Deutschland noch 800 000 davor."
Editiert am 17.08.2008 um 07:57 Uhr durch Ernie: Link gekürzt!